Gaspipeline
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Globale Verflechtungen neu ausrichten

Der Ukrainekrieg hat die strategische Energieabhängigkeit und Anfälligkeit der EU für autoritären politischen Druck offenbart. Grzegorz Lechowski und Monika Köppl-Turyna analysieren die Herausforderungen und mögliche Schritte hin zu einer größeren geopolitischen Resilienz der EU.

Der russische Angriff auf die Ukraine zwingt die EU und ihre einzelnen Mitgliedstaaten dazu, grundsätzlich zu überdenken, wie sie ihre Beziehungen zu autoritären Mächten gestalten. Für Deutschland stellt sich die zentrale Frage nach der Belastbarkeit der seit langem etablierten pragmatischen Politik des „Wandels durch Handel“. Diese Strategie beruht auf dem Gedanken, dass eine enge wirtschaftliche Verflechtung das Verhalten autoritärer Regime einhegen und langfristig den gesellschaftlichen Wandel fördern wird. Diese Hoffnung kann sich auf wissenschaftliche Literatur stützen, die davon ausgeht, dass wirtschaftliche Öffnung einen positiven Effekt auf die Demokratisierung haben kann. In der Realität allerdings haben sich das politische System und die gesellschaftlichen Institutionen in Russland dem Veränderungsdruck hartnäckig widersetzt. Wenn überhaupt, hat die wirtschaftliche Verflechtung durch den Zufluss ausländischen Kapitals das autoritäre Regime gestärkt und seinen bisherigen politischen Pfad gestützt. Außerdem hat Vladimir Putin durch verschiedene Maßnahmen die engen wirtschaftlichen Verbindungen Russlands zum Westen in gewisser Weise in Waffen verwandelt – Deutschland und die gesamte EU sind dadurch äußerst anfällig für politischen Druck.

Das drängendste wirtschaftliche Problem der EU nach Ausbruch des Krieges in der Ukraine ist die Energieversorgung. Derzeit machen Importe aus Russland etwa 40 Prozent des gesamten Gasverbrauchs der EU aus. Sie rasch zu ersetzen ist schwierig, da strategische Energieinfrastruktur – wie Interkonnektoren oder Terminals für verflüssigtes Erdgas (LNG) – in Europa nach wie vor unterentwickelt ist. Östliche Mitgliedsstaaten der EU haben schon lange auf die geopolitischen Risiken einer Energieabhängigkeit von Russland hingewiesen, aber diese Bedenken wurden von den wichtigsten westeuropäischen Partnern weitgehend ignoriert. Der mehrheitlich russische Energiekonzern Gazprom konnte davon profitieren, dass Gaslieferverträge nicht auf EU-Ebene verwaltet wurden. Entgegen jeder ökonomischen Logik zahlten die geografisch nahe bei Russland gelegenen EU-Mitgliedsstaaten höhere Gaspreise als die hochentwickelten Volkswirtschaften in Westeuropa. Überdies gibt es Belege dafür, dass russische Unternehmen, die Gas und Öl liefern, Preise und Abgabemengen in bestimmten Situationen manipulierten, um konkreten politischen Druck auszuüben.

EU-Regierungen wie nationale Wirtschaftsakteure waren 2014 nicht bereit, bilaterale Vereinbarungen aufzugeben

Nach der Annexion der Krim im Jahr 2014 blitzte die Möglichkeit auf, den Status quo zu ändern. Die Juncker-Kommission initiierte die sogenannte „Europäische Energieunion“, die unter anderem darauf abzielte, eine Diversifizierung von Lieferländern anzukurbeln, die Vernetzung der nationalen Energieinfrastrukturen zu verbessern und die Verhandlungsmacht der EU durch gemeinsame Beschaffung zu stärken. Allerdings waren die EU-Regierungen und die nationalen Wirtschaftsakteure damals noch nicht bereit, ihre bilateralen Vereinbarungen aufzugeben und ihre Energiepolitik im Sinne eines gemeinsamen geostrategischen Interesses neu auszurichten. Zentral in diesem Prozess war das Vorgehen der deutschen Bundesregierung – als Vertreterin des größten Energiemarktes der EU –, die sich gegen gemeinsame Beschaffungsinitiativen der EU wehrte, das umstrittene Pipeline-Projekt „Nord Stream“ unterstützte und eigene Investitionen in die kritische Energieinfrastruktur vernachlässigte, die für die Diversifizierungsbemühungen der EU entscheidend gewesen wären.

Der russische Angriff auf die Ukraine im Februar 2022, die künstlich herbeigeführte Energiepreiskrise unmittelbar davor, und die aktuellen Lieferstopp-Drohungen haben die Frage der Energiesicherheit wieder in den Mittelpunkt der europäischen politischen Debatte gerückt. Betrachtet man die Äußerungen und Maßnahmen führender EU-Politiker*innen in den ersten Kriegswochen, könnte man erste Anzeichen für einen deutlichen Politikwechsel entdecken. So definierte die sogenannte „Versailler Erklärung“ vom März 2022 die Beendigung der Abhängigkeit von fossilen Brennstoffimporten aus Russland als gemeinsames strategisches Ziel der EU. Allerdings bleibt abzuwarten, wie radikal und wie schnell diese Transformation tatsächlich sein wird. Das Kernproblem ist, dass die kurzfristigen politischen und wirtschaftlichen Kosten aktuell stärker in die Überlegungen einfließen als der langfristige Nutzen – insbesondere in einigen EU-Mitgliedstaaten. Während die genauen volkswirtschaftlichen Auswirkungen weiterer Sanktionen noch sehr umstritten sind, deutet eine von der Europäischen Zentralbank vorgelegte grobe Einschätzung darauf hin, dass eine Kürzung der Gasversorgung um 10 Prozent die Wertschöpfung in den Ländern der Eurozone um rund 0,7 Prozent verringern würde – allerdings mit deutlich größeren Auswirkungen auf die relativ gasabhängigeren Länder wie die Slowakei oder Österreich. Simulationen auf Länderebene für Deutschland und Österreich deuten auf einen Rückgang des Bruttoinlandsprodukts um 2-3 Prozent hin (durch einen weiteren Anstieg des Gaspreises und einen negativen Angebotsschock). Obwohl diese Auswirkungen immer noch geringer wären als die Auswirkungen der COVID-19-Pandemie, könnte die Rezession im Falle eines vollständigen Energieembargos schwerwiegender sein. Und manche Experten zeichnen noch deutlich pessimistischere Szenarien.

Drei Vorschläge für eine langfristige Lösung

Während sich die aktuellen Kontroversen auf die eher kurzfristigen wirtschaftlichen Auswirkungen von Sanktionen konzentrieren, wollen wir betonen, dass moralische, strategische und geopolitische Dimensionen im Mittelpunkt der Debatte bleiben müssen. Abgesehen von der dringend benötigten Soforthilfe für die Ukraine wird die Beendigung der Energieabhängigkeit von Russland ein notwendiger Schritt sein, um die derzeitige Anfälligkeit der EU für den autoritären politischen Druck zu verringern. In dieser Hinsicht braucht die EU jedoch auch eine umfassendere und langfristigere Agenda mit dem klaren Ziel, die Resilienz ihres gesamten Energiesystems zu steigern. Drei konkrete Vorschläge können wir zu dieser Diskussion beitragen. Zunächst muss auf EU-Ebene ein gemeinsamer Ansatz zur Energiesicherheit entwickelt werden. Möglicherweise am wichtigsten ist, dass eine eng koordinierte Beschaffungsstrategie erarbeitet wird, um der EU bei ihren Transaktionen auf den zunehmend wettbewerbsorientierten globalen Energiemärkten mehr Gewicht zu verleihen. Zweitens muss die EU ihre Ressourcen bündeln und eine strategische Priorität auf relevante technologische Innovationen im Bereich der erneuerbaren Energien legen. Denn die Risiken einer geopolitischen Abhängigkeit sind nicht auf fossile Brennstoffe beschränkt. Beispielsweise ist die EU bei erneuerbaren Energiesystemen derzeit für einen Großteil ihrer Nachfrage nach Photovoltaikzellen, Windturbinenkomponenten oder elektrischen Batterien auf China angewiesen. Um diese Abhängigkeit zu verringern, sollte die EU die inländischen technologischen Fähigkeiten stärken, indem sie relevante bestehende politische Instrumente – wie das Programm der „Important Projects of Common European Interest“ (IPCEI) – anwendet und die strategische öffentlich-private Zusammenarbeit im Energiesektor weiter fördert. Drittens und letztens sollten sowohl die Politik als auch die Innovationsbemühungen auf EU-Ebene enger mit globalen Partnern koordiniert werden, die bereit sind, die liberale internationale Ordnung zu unterstützen. Ein wichtiger Schritt in diese Richtung sind die aktuellen Initiativen zur Wiederbelebung transatlantischer Technologie- und Handelspartnerschaften. Ein interessanter Fall ist der Trade and Tech Council (TTC), der Themen wie transnationale technologische Standards oder Lieferkettensicherheit in Schlüsseltechnologiesektoren untersucht. Auf der Grundlage solcher Koordinierungsrahmen ist die EU möglicherweise besser in der Lage, auf die wachsende Marktmacht und technologische Leistungsfähigkeit der zunehmend durchsetzungsfähigen autoritären Regime weltweit zu reagieren.

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5. April 2022