Fußball-WM und Menschenrechte in Katar: Wo der Propaganda-Effekt nicht verfing
Von Sebastian Hellmeier und Michael Zürn
Die Fußball-WM in Katar war hoch umstritten. Dabei hatte sich der Golfstaat von seiner Gastgeberrolle international einen Imagegewinn erhofft. Nun zeigt eine Umfrage wenige Wochen vor Anpfiff der Fußball-WM bei knapp 16.000 Menschen in acht europäischen Ländern, dass der propagandistische Effekt der WM ganz erheblich von der Qualität der Medienlandschaft abhängt. Dort, wo die Vergabe und Vorbereitung der WM durch eine kritische Berichterstattung begleitet wurde, haben die Machthaber in Katar ihr Ziel nicht erreicht, die Lage der Menschenrechte in ein besseres Licht zu rücken. Insbesondere die deutsche Medienlandschaft tut sich zusammen mit der in Schweden hervor.
Das Emirat Katar hat sich die Fußball-Weltmeisterschaft viel kosten lassen, angefangen bei der Vergabe im Jahr 2010. Die dort mutmaßlich geflossenen Bestechungsgelder werden nicht gering gewesen sein. Alleine die Stimme von Michel Platini dürfte teuer gewesen sein, zumindest wenn man das folgende Engagement des Emirs beim Fußballclub Paris Saint-Germain mitrechnet. Sie fallen im Vergleich mit den Kosten für den Stadionbau sowie die Infrastrukturmaßnahmen zur Ausrichtung der WM aber kaum ins Gewicht. Denn noch nie hat ein Gastgeberland so viel Geld in die Austragung einer Fußball-Weltmeisterschaft investiert. Laut Schätzungen liegen die Kosten für den Ausbau der Infrastruktur sowie der Stadien, in denen die WM-Spiele stattfanden, bei insgesamt 220 Milliarden Dollar. Dabei sind Auslastung und Nachnutzung der neuen Stadien fraglich. Die Zielmarke von 1,2 Millionen internationalen Besuchern wurde verfehlt. Zum Vergleich: Die Ausgaben für die WM in Deutschland im Jahr 2006 lagen bei circa 4,3 Milliarden Dollar. Der aktuelle Bestechungsskandal um die ehemalige EU-Vizeparlamentspräsidentin Eva Kaili zeigt zudem, dass auch bei den begleitenden PR-Maßnahmen hohe Summen flossen.
Warum hat der Emir so viel Geld in die Hand genommen? Erfolgreich abgehaltene Sportgroßveranstaltungen können nicht nur der inneren Legitimation von politischen Systemen dienen, insbesondere autoritäre Regime erhoffen sich dadurch auch einen internationalen Reputationsgewinn, wie es beispielsweise bei den olympischen Winterspielen in Russland 2014 zu beobachten war. Die Olympischen Spiele in Berlin 1936 sind nach wie vor das Paradebeispiel dafür. Laut vergleichender Daten des „Varieties of Democracy (V-Dem)“-Projekts an der Universität Göteborg ist Katar das zweitautoritärste Gastgeberland einer Fußball-WM – nur das faschistische Italien 1934 war weniger demokratisch. Die diktatorischen Ausrichter versprechen sich einen Whitewashing-Effekt. Im Falle von Katar erhofft man sich insbesondere eine Übertünchung der Menschenrechtslage. Das Gastgeberland der Fußballweltmeisterschaft steht im Ausland wegen des Umgangs mit den sogenannten Gastarbeitern in der Kritik. Zudem wird dem Land die Missachtung der Rechte von Frauen und LGBTQI+-Menschen vorgeworfen. Es könnte aber auch ein gegenteiliger und nicht intendierter Effekt eintreten. Die intensivierte Berichterstattung über das Gastgeberland kann zu einer Politisierung der dortigen Verhältnisse führen. Dann wirkt eine Großveranstaltung wie eine Lupe, die Missstände nur umso deutlicher aufzeigt.
In einer Studie des Wissenschaftszentrums Berlin für Sozialforschung (WZB) im Rahmen des Exzellenzclusters „Contestations of the Liberal Script“ (SCRIPTS) sind wir den Reputationseffekten der Ausrichtung einer solchen Großveranstaltung nachgegangen. Johannes Gerschewski, Heiko Giebler, Sebastian Hellmeier, Eda Keremoglu und Michael Zürn haben Fragen entwickelt, die an fast 16.000 Personen in acht europäischen Ländern vor, während und nach der WM gerichtet wurden bzw. werden. Durch den Vorher-nachher-Vergleich sollen die Reputationseffekte dieser WM nachgewiesen werden.
Bereits die Auswertung der Befragung vor der WM zeigt, wie stark sich die Wahrnehmung Katars in Europa unterscheidet. Im November hatten wir die Teilnehmenden gebeten, die Menschenrechtslage in Katar auf einer Skala von 1 („werden überhaupt nicht respektiert“) bis 7 („werden voll und ganz respektiert“) zu beurteilen. Während die Befragten in Schweden und Deutschland (und mit einer Abstufung auch Großbritannien) zu einer dramatisch schlechten Einschätzung der Menschrechtslage in Katar gelangen, schätzen die Rumäninnen und Rumänen die Menschrechtslage sogar mehrheitlich positiv ein. Dazwischen liegen Länder wie Italien, Polen, Kroatien und Ungarn.
Ein Teil dieser enormen Unterschiede lässt sich auf die Qualität und das Ausmaß der Konsolidierung der Demokratie in den befragten Ländern zurückführen. Damit verbindet sich im Allgemeinen eine mehr oder weniger hohe Wertschätzung von Menschenrechten, insbesondere die Achtung der Rechte von Frauen und LGBTQI+-Menschen. So befinden sich Schweden, Großbritannien, Deutschland und Italien laut dem letzten Bericht des V-Dem Instituts in den oberen 10 bis 20 Prozent des globalen Indexes für liberale Demokratien. Dann folgen Kroatien und Rumänien (obere 20 bis 30 Prozent), Polen (obere 40 bis 50 Prozent) sowie Ungarn (untere 40 bis 50 Prozent).
Aber woher rührt die große Differenz zwischen Italien und Schweden in der Einschätzung der Menschenrechtslage in Katar, obwohl doch beide als konsolidierte Demokratien gelten? Und warum sind die Menschen in Rumänien gegenüber Katar so nachsichtig, obwohl ihr Land inzwischen bessere Demokratiewerte aufweist als Polen und Ungarn? Als Erklärung greifen hier die unterschiedlichen Mediensysteme, die relative Bedeutung von Qualitätsmedien und die damit verbundene Qualität der öffentlichen Debatten.
Zahlen der Bertelsmann Stiftung zur Medienfreiheit deuten auf diesen Zusammenhang hin. In Deutschland und Schweden gibt es die vielfältigsten Medienlandschaften, in denen eine große Bandbreite unterschiedlicher Meinungen veröffentlicht wird. Beide Länder liegen im Ranking aller OECD- und EU-Länder vorn (Platz 4 und 5). Italien (Platz 12) und Großbritannien (Platz 18) folgen mit Abstand. In Polen (Platz 34), Kroatien (Platz 36) und Rumänien (Platz 38) spiegeln die Medien eine geringere Meinungsvielfalt wider und die Eigentumsverhältnisse in der privaten Medienlandschaft sind konzentrierter. Oligopole und staatliche Einmischung behindern einen offenen Diskurs in der Medienöffentlichkeit. Ungarn belegt im Zuge der Autokratisierung unter Präsident Viktor Orbán sogar den vorletzten 40. Platz.
Die V-Dem-Daten zur Qualität öffentlicher Debatten untermauern den Zusammenhang sogar noch klarer. Um der Tatsache Rechnung zu tragen, dass die Berichterstattung über Katar schon deutlich vor dem WM-Turnier zugenommen hatte, greifen wir auf Zahlen von 2019 zurück: Schweden und Deutschland liegen diesmal in umgekehrter Reihenfolge wieder ganz vorne (Platz 4 und 6). Großbritannien folgt erst mit einigem Abstand (Platz 32), der zu Italien nochmals deutlich größer wird (Platz 41). Dann kommen Kroatien und Polen (Platz 81 und 109). Und ganz am Ende stehen Ungarn (Platz 125) und Rumänien (Platz 151), deren Einstufung sich in den letzten Jahren aber deutlich verbessert hat. Diese Rangfolge passt haargenau zu unseren Umfrageergebnissen.
Das legt den Schluss nahe, dass das Whitewashing autoritärer Regime nur dort funktionieren kann, wo es einen Mangel an kritischer Medienberichterstattung gibt. Im Falle Katars hat die WM in den Ländern mit kritischer Berichterstattung zum gegenteiligen Effekt geführt. Sie wirft ein Schlaglicht auf die Menschenrechtssituation und fördert die Sichtbarkeit der bestehenden Missstände. Wir dürfen daher getrost annehmen, dass sich die enormen Gesamtkosten der WM zumindest in den Ländern mit einer kritischen Medienberichterstattung nicht auszahlen.
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21.12.22 CR/MP