Die Wahlen in Ungarn im Schatten des russischen Krieges in der Ukraine
Von Endre Borbáth und Jan Philipp Thomeczek*
Am kommenden Sonntag finden in Ungarn die wohl spannendsten Parlamentswahlen seit 2006 statt. Nach 12 Jahren, in denen Viktor Orbán und seine Fidesz-Partei über die Mehrheit verfügten, hat die Opposition eine realistische Chance auf einen Wahlsieg. Vorab hatten sich sechs Oppositionsparteien in der Wahlkoalition „Vereint für Ungarn“ zusammengeschlossen. Bei den Vorwahlen wählte die Opposition in jedem der 106 Bezirke einen Koalitionskandidaten, der gegen den Fidesz Kandidaten antritt, und stellte sich geschlossen hinter den Ministerpräsidentenkandidaten Péter Márki-Zay. Márki-Zay tritt als Mitte-rechts-Kandidat an, um enttäuschte Fidesz-Wähler zu überzeugen, und vertritt diese Position innerhalb eines ideologisch sehr unterschiedlich aufgestellten Oppositionsbündnisses. „Vereint für Ungarn“ setzt sich aus unterschiedlichen Parteien zusammen, die teils dem Rechtspopulismus (Jobbik), der Mitte (Momentum), der Sozialdemokratie (MSZP), der Linken (DK) und der Umweltbewegung (PM, LMP) entstammen. Alle Parteien des Bündnisses stehen unter dem Druck des Mehrheitswahlsystems, sie verbindet aber vor allem ihre starke Ablehnung gegenüber dem Establishment und Viktor Orbán.
Der Wahlkampf war zunächst von gesellschaftlichen Themen wie der Genderpolitik dominiert. So hatte die Regierung dazu aufgerufen, zeitgleich mit den Wahlen ein Referendum über ein umstrittenes Gesetz zum „Kinderschutz“ abzuhalten, das LGBTQI-„Darstellungen“ in der Bildung einschränkt. Diesem Plebiszit scheint es in verschiedenen Bereichen an Integrität zu mangeln, wenn man die Kriterien anderer Referenden anlegt. Die Fragen sind höchst suggestiv und teils homophob formuliert, mit dem Ziel, die Oppositionsparteien in die Enge zu treiben.
Die Dynamik des Wahlkampfs hat sich jedoch mit dem Beginn des russischen Angriffs auf die Ukraine schlagartig geändert. Der Krieg hat die Orbán-Regierung gezwungen, ihre Strategie gegenüber Russland zu ändern. 12 Jahre lang hatte sie das Verhältnis zu Russland vertieft. Dazu gehören die Vereinbarung über den Ausbau eines Kernkraftwerks mithilfe russischer Kredite, die Ansiedlung der von Russland unterstützten Internationalen Investitionsbank (die oft als „trojanisches Pferd“ für russische Geheimdienstoperationen in Europa angesehen wird), die Veranstaltung regelmäßiger Treffen zwischen Putin und Orbán sowie enge Geschäftsbeziehungen mit der russischen Elite.
Da sich NATO und EU solidarisch mit der Ukraine erklärten, änderte Orbán die Haltung seiner Regierung gegenüber Russland: hin zu einer teilweise friedensbetonenden, neutralen Position, die ihm mutmaßlich aus Wahlkampfsicht am wenigsten schadet. Im Rahmen dieser Strategie zögert die Regierung nach wie vor, harte Sanktionen gegen Russland zu verhängen oder die militärischen Anstrengungen der NATO zu unterstützen, wie zum Beispiel Waffentransporte, scheut aber auch davor zurück, die NATO offen herauszufordern. Das Bündnis „Vereint für Ungarn“ vertritt hingegen eine klare Position, die eine engere Anbindung an NATO- und EU-Länder betont und sich gegen Russland stellt. Im letzten Monat des Wahlkampfs wurde der Krieg zu einem Topthema, das die Berichterstattung über andere innenpolitische Themen in der Presse verdrängte.
Die Haltung der Regierung zum Krieg lässt sich gut mit ihrer generellen Haltung zur EU erklären. So nimmt Fidesz eine neutrale Haltung zur EU-Mitgliedschaft Ungarns ein, wie eine Expertenumfrage und eine Online-Wahlhilfe des PRECEDE-Projekts zeigt. Während Orbán einen dauerhaften rhetorischen „Kampf gegen Brüssel“ führt, argumentierte er in der Vergangenheit, dass Ungarn als aufstrebender Markt, der Investitionsmöglichkeiten für westeuropäische Volkswirtschaften bietet, Vorteile durch eine EU-Mitgliedschaft hat. Ein Austritt aus der EU stand innerhalb von Fidesz nie zur Debatte, stattdessen plädiert Orbán für eine Reform der EU. Das Oppositionsbündnis nimmt dagegen eine positivere Position zur EU ein und Ministerpräsidentenkandidat Márki-Zay verspricht, den Euro einführen zu wollen. Trotz der großen Unterstützung in der Bevölkerung für die EU-Mitgliedschaft hat Fidesz seit Beginn der Regierungszeit eine ambivalente Position zu den europäischen Institutionen eingenommen. Unter den Bedingungen des Krieges in der Ukraine vertritt Orbán eine ähnlich pragmatische Position und argumentiert, dass „ungarische Interessen“ über die Solidarität mit der Ukraine gestellt werden müssten. Diese Position ist insofern möglich, da momentan kein russischer Angriff auf ein NATO-Land bevorsteht. Die Oppositionsparteien sehen die Haltung des Landes zum Krieg als Test für Ungarns Beziehungen zum Westen.
Auch wenn der Ausgang der Wahlen ungewiss ist, gilt Fidesz als klarer Favorit. Die wenigen Meinungsumfragen, die seit Ausbruch des Krieges durchgeführt wurden, zeigen, dass viele Wähler mit der von Viktor Orbán vertretenen neutralen Position einverstanden sind. Am Nationalfeiertag, dem 15. März, verbreiteten Aktivisten eine frühere Rede Viktor Orbáns vor einer Versammlung der Regierungsanhänger, in der er für eine prinzipientreuere Haltung gegenüber einem Autokraten wie Putin plädierte. Die Regierungsanhänger buhten diese frühere Rede aus und zeigten damit eine bemerkenswerte Unterstützung für den Ministerpräsidenten und seine geänderte Haltung gegenüber Russland.
Orbán ist es in seiner Amtszeit gelungen, eine politisch homogene Wählerschaft in einem stark polarisierten Land zu formen, in dem der Übertritt von Fidesz-Wählern zur Opposition die Ausnahme bleibt. Sollte das Oppositionsbündnis aus der Wahl am Sonntag als Sieger hervorgehen, muss es ähnlich wie Fidesz vorgehen. Um eine stabile Regierung für die kommenden Jahre zu bilden, muss es die Differenzen innerhalb des sehr heterogenen Bündnisses überwinden, die auch nach einem Wahlsieg bestehen bleiben. In diesen letzten Tagen des Wahlkampfs könnte ein verbaler Fehltritt, die Vergangenheit einiger Jobbik-Politiker oder eine Erinnerung an die Rolle des früheren linken Ministerpräsidenten Gyurcsány bei der Niederschlagung der Proteste 2006 die Wähler der Oppositionsparteien noch abschrecken.
*Unter Mitarbeit von: Alberto López Ortega, Norbert Kersting, André Krouwel
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31.3.2022