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Das agile Subjekt in Pandemiezeiten

Von Timo Daum

Bald zwanzig Jahre ist es her, dass 17 amerikanische Softwareexpert*innen ihr Manifest für Agile Softwareentwicklung veröffentlichten. Kleine Teams sollten eng zusammenarbeiten, in kurzen Zeitabständen funktionsfähige Zwischenergebnisse liefern und diese ständig mit den Kunden abstimmen – ein radikaler Bruch mit der traditionellen Vorstellung, Projekte seien eben erst ganz zum Schluss fertig. In zwölf Prinzipien plädierten sie für iterative Entwicklung statt langfristiger Planung unter Berücksichtigung von User-Feedback. Üblicherweise in Entwicklungsschritten von zwei bis drei Wochen gilt es nun, durch schrittweise Produktverbesserungen lauffähige Prototypen fertigzustellen.

Dem Team wurde zentrale Bedeutung zugemessen, sein Alltag sollte durch persönliche Kommunikation und tägliches physisches Zusammentreffen geprägt sein. Es sollte die Freiheiten erhalten, seine Arbeit selbst zu organisieren und abzuarbeiten, gepaart mit hoher Eigenverantwortung.

Neue Rollen hielten Einzug bis hin zu passender Architektur: eher Werkstattcharakter, offene Räume und flexible Arbeitsplätze statt geschlossener Einzelbüros. So etwas gab es bis dato so gut wie nicht. Flachen Hierarchien und neuen Rollen steht auch eine radikale Transparenz gegenüber: Was jede Projektbeteiligte gerade macht, ist für alle ersichtlich. Das Team ist ständig auf dem Laufenden, was sämtliche Aktivitäten der Teammitglieder angeht, und Aktivitäts-Feeds generieren einen ständigen Strom an Leistungsdaten. Diese Überwachung geschieht dabei durch das Team selbst.

Das mittlerweile 20 Jahre alte Agile Manifest hat die Softwareentwicklung revolutioniert, agile Methoden sind zum Standard geworden. Aber auch darüber hinaus gewinnen sie an Bedeutung – überall da, wo kreativ gearbeitet wird, das Endergebnis nicht genau bestimmt werden kann und wo immer es um Software- und Produktentwicklung geht. Ihre Werte und Prinzipien – Kundenorientierung, Eigenverantwortung und Selbstoptimierung – werden gleichzeitig zum Imperativ jeglicher kognitiver Arbeit.

Physische Nähe, enge Zusammenarbeit und direkte Begegnungen in agilen Teams gehören zum Kanon der agilen Methoden, so zum Beispiel die geforderte tatsächliche Anwesenheit aller Teammitglieder bei Scrum (englisch Haufen oder Meute), einer der verbreitetsten agilen Methoden. Das ist in Zeiten der Corona-Krise nicht mehr möglich, widerspricht doch die Vereinzelung im Homeoffice der angestrebten idealen Arbeitssituation diametral.

Die Agilitätsberatenden warteten mit einem Update auf: „Distributed Scrum“, also verteiltes Arbeiten wurde propagiert. Da die Teammitglieder aber nun weit verstreut und vereinzelt agierten, steige die Bedeutung digitaler Tools, die Arbeitenden müssten die fehlende Präsenz ausgleichen durch eine intensive Multi-Channel-Aktivität. Von digitalen Technologien war im Agilen Manifest übrigens noch gar nicht die Rede, jetzt rücken sie immer mehr ins Zentrum des agilen Arbeitsalltags.

Eine reibungslose Adaption der Beschäftigten an die neuen Software-Tools wird dabei ebenso vorausgesetzt wie das Erlernen der damit verbundenen sozialen Fähigkeiten (»Gehen Sie nicht auf die Toilette, während Sie an einer Microsoft Teams- oder Zoom-Telefonkonferenz teilnehmen«) – ein Paradebeispiel für das, was die Arbeitswissenschaftlerin Phoebe Moore von der Universität Leicester als „affektive Arbeit“ bezeichnet, die stillschweigend vorausgesetzt wird, unsichtbar bleibt und nicht vergütet wird. In der Pandemie wurde wie in einem Laborversuch die Flexibilität und Resilienz der Menschen auf die Probe gestellt – ein brachialer Anpassungsprozess an quasi über Nacht veränderte Bedingungen nahm seinen Lauf.

Wie wird die Unternehmenskultur in der Post-Corona-Welt aussehen? Alejandra Martínez Boluda, Geschäftsführerin der Business Innovation Consulting Group, die 1999 als Spin-off des Fraunhofer-Instituts für Arbeitswirtschaft und Organisation (IAO) gegründet wurde, setzt auf die Werte und Prinzipien der Agilität: „Übermäßige Kontrolle“, konstatiert sie, „ist nicht mehr sinnvoll“, stattdessen gewinnen Resilienz, Flexibilität, Selbstorganisation, die Abschaffung von bürokratischen, innerarchitektonischen und sozialen Hürden, Vertrauen und Empathie mit einer klaren Verteilung der Autorität“ an Bedeutung. Unternehmen werden erkennen, dass sie viel anfälliger sind als gedacht und mit selbstorganisierten, objektiven und ergebnisorientierten digitalen Arbeitsmodellen agiler auf zukünftige Herausforderungen reagieren müssen“, lautet die Einschätzung.

Die agilen Methoden machen Schule von Amazon bis Zalando, von der Auto-industrie bis zu Versicherungen. Ihre Werte und Prinzipien dienen als Leitmotiv für eine resiliente workforce, die sich selbst steuert und den Unternehmen so zu mehr Agilität verhilft. Die agilen Teams werden zu kyber-netischen Systemen, verhalten sich wie „dynamische, selbstregulierende und selbstorganisierende Systeme“ – mit diesen Worten hatte der Vorkämpfer der Kybernetik in der DDR, Georg Klaus, deren Anwendungsbereich einst beschrieben.

Die Anpassungsprozesse, die insbesondere Kopf-Arbeiterinnen und -Arbeiter in der Corona-Zeit gemeistert haben, sind in diesem Kontext zu verstehen und gleichzeitig Garant für die Resilienz des digitalen Kapitalismus. Sie liefern die Blaupause für ein Subjektivitätsmodell, das sich ihre Adressaten in allen Lebenslagen zu eigen machen – bis hin zu den agilen Senioren, die die Ruheständler von gestern abgelöst haben. Die Agilen Methoden fließen ein in die Konstitution eines agilen Selbst, das immer höher getaktet kognitive Arbeit abzuliefern imstande ist. „Digitaler Taylorismus oder Empowerment durch Teamorganisation?“ So lautete die Leitfrage einer 2018 von der IG Metall abgehaltenen Tagung zum Einsatz agiler Methoden. Die Antwort muss wohl lauten: beides zugleich.