Die Veränderung der Veränderung
Veränderung ist kein eindimensionaler Prozess. Um sie zu verstehen, müssen wir zwei Zeitebenen betrachten: den Rhythmus einzelner Momente und die Gesamtheit der verstrichenen Zeit. Wie wichtig diese Sichtweise für das Verständnis von Veränderungsprozessen ist, zeigt Steffen Huck am Beispiel des technologischen Fortschritts und des Aufstiegs der populistischen Rechten.
In einer Welt, die von ständigem Wandel geprägt ist, scheint die Idee der Veränderung auf den ersten Blick klar und eindeutig. Doch wie genau Veränderung funktioniert – und wie sie sich selbst im Laufe der Zeit verändert –, bleibt oft unreflektiert. Um Veränderung wirklich zu verstehen, reicht es nicht aus, sie als einen einheitlichen Prozess zu betrachten. Vielmehr findet sie auf zwei fundamentalen Zeitebenen statt: Einerseits tickt sie im Rhythmus einzelner Momente, andererseits entfaltet sie sich durch die Gesamtheit der verstrichenen Zeit. Diese Dualität ist nicht nur ein theoretisches Konstrukt, sondern hat weitreichende Konsequenzen – sowohl für wissenschaftliche Analysen als auch für unser Verständnis von gesellschaftlichen Dynamiken.
Die Grundlage dieser Argumentation ist eine Unterscheidung zwischen zwei Arten, wie Zeit wirkt. Erstens gibt es Prozesse, die „Tick für Tick“ voranschreiten – Schritt für Schritt, Moment für Moment, in einer Abfolge von kausalen Ereignissen. Zweitens gibt es Prozesse, die sich durch die verstrichene Gesamtzeit manifestieren, wobei die Veränderungen nicht einfach als Summe der einzelnen Schritte erfasst werden können. Diese beiden Dynamiken – die diskrete und die kontinuierliche – überlagern und beeinflussen sich gegenseitig.
Beispielsweise kann ein technologischer Fortschritt wie die Verbreitung des Internets nicht nur durch die Anzahl der verkauften Geräte oder die Taktung von Innovationen erklärt werden. Er muss auch in Bezug auf die transformative Wirkung betrachtet werden, die sich über Jahrzehnte hinweg entfaltet hat und nicht linear in einzelnen Momenten greifbar ist.
Wenn man eine der beiden Zeitebenen ignoriert, entstehen gravierende Fehler in der Analyse. Eine ausschließliche Fokussierung auf den Tick-für-Tick-Rhythmus führt dazu, dass größere Zusammenhänge und langfristige Muster übersehen werden. Umgekehrt führt eine ausschließliche Betrachtung der Gesamtdynamik dazu, dass die Mechanismen und spezifischen Auslöser für Veränderungen unsichtbar bleiben.
In unserer Forschung (mit Teresa Backhaus, Johannes Leutgeb und Ryan Oprea) haben wir diese dualen Dynamiken untersucht, insbesondere im Kontext der Evolution sozialer Kooperation. Unsere Analyse zeigt dabei einen frappierenden kontraintuitiven Befund: Soziale Kooperation profitiert paradoxerweise oft davon, dass Akteure weniger detaillierte Informationen über ihre eigenen Profitmöglichkeiten haben. Dies liegt daran, dass eine zu feingranulare Wahrnehmung langfristige kooperative Verhaltensweisen untergräbt. Dieses Beispiel illustriert, wie tickende und umfassende Dynamiken zusammenwirken und warum ihr Zusammenspiel zentral für das Verständnis von Veränderungsprozessen ist.
Gesellschaftliche Veränderung und die populistische Rechte
Ein aktuelles Beispiel für diese dualen Dynamiken ist der Aufstieg der populistischen Rechten weltweit. Auf der Tick-für-Tick-Ebene lassen sich einzelne Ereignisse wie Wahlen, politische Entscheidungen oder Krisen identifizieren, die den Aufstieg dieser Bewegungen begünstigt haben. Doch zugleich entfaltet sich eine größere Dynamik, die durch längerfristige Veränderungen in den gesellschaftlichen Strukturen, wie die Erosion traditioneller Institutionen oder die Polarisierung öffentlicher Diskurse, geprägt ist.
Die populistische Rechte profitiert von diesen beiden Ebenen der Veränderung. Einerseits mobilisiert sie kurzfristig durch Schlagworte, Social Media und emotionale Kampagnen. Andererseits greift sie tiefgreifende, über Jahrzehnte gewachsene Ressentiments und Unsicherheiten auf, die nicht durch isolierte Ereignisse erklärbar sind.
Der Aufstieg der Alternative für Deutschland (AfD) ist ein eindrückliches Beispiel dafür. Auf der Tick-für-Tick-Ebene war die Gründung der AfD 2013 eine Reaktion auf die Euro-Rettungspolitik, dann kam die sogenannte Flüchtlingskrise 2015. Die Entscheidung der Bundesregierung, Hunderttausende Geflüchtete aufzunehmen, half der AfD auf der Tick-für-Tick-Ebene, gezielt Ressentiments gegen Migration und etablierte politische Akteure zu mobilisieren.
Gleichzeitig funktionierte die Flüchtlingskrise aber auch als Katalysator für die Großdynamik, nicht zuletzt dank der Unterstützung der öffentlich-rechtlichen Sender, die sich – aus welchen Gründen auch immer – genötigt sahen, der AfD täglich Raum für ihre Positionen einzuräumen und ihr damit eine Präsenz ermöglichten, die weit über ihre tatsächliche politische Bedeutung hinausging. Und es war genau diese Präsenz, die die ohnehin operierende Tick-für-Tick-Dynamik des Aufstiegs der AfD drastisch verstärkt hat.
Ein nicht minder bedrückendes Beispiel ist der Brexit. Über Jahrzehnte hinweg wuchs in Großbritannien eine Skepsis gegenüber der EU, gespeist durch wirtschaftliche, kulturelle und politische Faktoren. Diese längerfristige Dynamik schuf die Voraussetzungen, aber es waren die gezielte Kampagne und das Referendum, die schließlich den Wendepunkt herbeiführten.
Die Veränderung verstehen
Diese Prozesse erinnern an Malcolm Gladwells Konzept der „Tipping Points“. Gladwell beschreibt diese Wendepunkte als Momente, in denen ein kumulativer Prozess eine kritische Masse erreicht und plötzliche, oft unumkehrbare Veränderungen auslöst. Solche Tipping Points entstehen aus der Wechselwirkung zwischen den beiden Zeitebenen: Die kontinuierliche Anhäufung von Veränderungen in der Gesamtdynamik bereitet den Boden, während ein einzelner Tick – ein scheinbar marginales Ereignis – den Durchbruch auslöst.
Wenn wir den Wandel untersuchen, erkennen wir also, dass er sich im Laufe der Zeit selbst wandelt. Die Mechanismen, durch die Veränderung geschieht, sind nicht statisch, sondern entwickeln sich mit der Gesellschaft weiter. In einer digitalisierten Welt beispielsweise beschleunigen sich Tick-für-Tick-Dynamiken durch technologische Netzwerke, während gleichzeitig die Gesamtdynamik durch globale Herausforderungen wie den Klimawandel oder wirtschaftliche Ungleichheiten geprägt wird.
Die populistische Rechte ist ein Symptom dieses Wandels der Veränderung. Sie nutzt die Beschleunigung der Tick-für-Tick-Dynamik durch soziale Medien und gleichzeitig die längere Frustration über wirtschaftliche und soziale Veränderungen. Diese doppelten Dynamiken führen zu neuen Tipping Points, die eine radikale Transformation der politischen Landschaft herbeiführen.
Die Idee der Dualität einer Tick-für-Tick-Dynamik und einer Gesamtdynamik findet freilich nicht nur in sozialen und politischen Prozessen Anwendung, sondern ist auch in den Naturwissenschaften von grundlegender Bedeutung. Viele physikalische Systeme operieren auf beiden Zeitebenen gleichzeitig, wobei die Dynamik der Gesamtdauer nicht einfach durch eine Aggregation der einzelnen Tick-für-Tick-Schritte erklärt werden kann.
Ein anschauliches Beispiel ist der Phasenübergang in thermodynamischen Systemen, etwa das Schmelzen von Eis. Auf der Tick-für-Tick-Ebene beobachtet man, wie einzelne Moleküle durch Energiezufuhr ihre Bindungen lösen und sich bewegen. Doch der Übergang von fest zu flüssig erfolgt nicht durch eine einfache Addition dieser Bewegungen. Stattdessen entsteht ein qualitativ neuer Zustand, der durch die Gesamtdynamik bestimmt wird: Ein kritischer Punkt wird erreicht, an dem die molekularen Interaktionen einen Schwellenwert überschreiten und das gesamte System eine neue Ordnung annimmt. Dieses Verhalten kann nur durch die Berücksichtigung beider Zeitebenen verstanden werden.
Ähnliches findet sich in der Biologie, wo sich die Dualität zum Beispiel in der Evolution offenbart. Auf der Tick-für-Tick-Ebene beobachten wir Mutationen in einzelnen Organismen oder spezifische Anpassungen an Umweltveränderungen. Doch die Evolution als Gesamtprozess entfaltet sich auf einer längeren Zeitskala, geprägt von emergenten Phänomenen wie der Entwicklung neuer Arten oder ökologischer Systeme, die nicht durch eine einfache Addition der Einzelereignisse erklärt werden können.
Und selbst in Kunst und Kultur sind diese dualen Dynamiken sichtbar. Der plötzliche Erfolg eines Kunstwerks oder einer literarischen Strömung mag durch einzelne „Ticks“ – etwa Rezensionen oder Ausstellungen – angestoßen werden. Doch der kulturelle Einfluss solcher Bewegungen entsteht erst über die Zeit hinweg, in der sie Resonanz finden und in größere narrative Strukturen eingebettet werden. Ein Beispiel dafür findet sich im Werk Richard Wagners, dessen Opern anfangs auf gemischte Reaktionen stießen und auf der Tick-für-Tick-Ebene ihrer Rezeption polarisierten. Doch über Jahrzehnte hinweg prägte Wagner durch seine innovativen Kompositionen und die Idee des Gesamtkunstwerks nicht nur die Oper, sondern auch das Selbstverständnis der Musik und Kultur des 20. und 21. Jahrhunderts.
„Die Veränderung der Veränderung“ erfordert ein Denken, das über einfache, sich in linearer Zeit entfaltende Modelle hinausgeht. Wenn wir nur eine Zeitebene betrachten, riskieren wir, wichtige Mechanismen zu übersehen und gesellschaftliche Entwicklungen falsch zu deuten. Die Dualität der Zeit – Tick für Tick und Gesamtzeit – bietet einen Schlüssel, um die Komplexität von Wandel und Transformation besser zu verstehen.
Unsere Forschung zeigt, dass der Blick auf diese beiden Ebenen nicht nur theoretisch fruchtbar ist, sondern auch praktische Relevanz hat. In einer Welt, die von Tipping Points und populistischen Aufbrüchen geprägt ist, brauchen wir ein tieferes Verständnis für die Mechanismen des Wandels. Denn nur so können wir nicht nur die Veränderung analysieren, sondern auch gestalten. Geopolitische Krisen und Klimawandel machen dies nötiger denn je.
19.03.2025
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