Glück haben reicht nicht
Ein Gespräch mit Claudia Finger, Lena Hipp und Dorothea Kübler
Meritokratie nennt das die Wissenschaft: Maßstab für die Zuteilung von Gütern und Chancen soll sein, was jemand leistet. Das wirkt gerecht, wirft doch viele Fragen auf. Was ist mit denen, die sich anstrengen und dennoch weniger einbringen, als sie brauchen? Wie damit umgehen, dass Leistung immer auch von den Ausgangsbedingungen abhängt? Darüber hat Gabriele Kammerer mit der Bildungsforscherin Claudia Finger, der Ungleichheitssoziologin Lena Hipp und der Ökonomin Dorothea
Kübler diskutiert.
Lena Hipp: Bei Leistung denkt man an Motoren, an Sport, an volkswirtschaftliche Gesamtleistung. Wir denken an die besonders Effizienten, die im Arbeitsleben an der Spitze stehen. Deren Leistungen sollen besonders belohnt werden – mit hohem Ansehen, hohen Gehältern und Boni. Das ist ein Verständnis, das in der Bevölkerung, aber auch in der Soziologie verbreitet ist.
Claudia Finger: In der Bildungssoziologie untersuchen wir meist, was in den Bildungsinstitutionen als Leistung definiert wird, also in der Regel Schulnoten oder Testergebnisse, die in Bildungszertifikate übersetzt werden und mitbestimmen, welche Positionen man auf dem Arbeitsmarkt erreichen kann.
Und ist Leistung eher das Talent, also das, was man schon mitbringt – oder die Anstrengung,
das, was dann der Mensch auch wirklich bringt?
Finger: Weit geteilt ist die Annahme, dass sich natürliches Talent plus das, was man zusätzlich noch an Anstrengungen investiert, übersetzt in irgendeinen Leistungsindikator, der als gerechtes Verteilungskriterium wahrgenommen wird.
Dorothea Kübler: Diese Mischung aus Anstrengungen und Fähigkeiten ist auch der Ansatz in der Mikroökonomik und der experimentellen Ökonomik. Allerdings hängt Anstrengung immer auch mit Fähigkeiten zusammen: Wenn jemand bestimmte Fähigkeiten hat, kann er sich vielleicht auch besser anstrengen. Insofern kann man beides nicht ganz voneinander trennen. Wenn wir in Laborexperimenten testen wollen, welche Rolle Leistung spielt, dann nutzen wir häufig absurde Aufgaben – Nullen zählen auf einer Seite zum Beispiel. Auf diese lächerlichen Sachen reagieren Leute und sehen es als Leistung an. Da merkt man, wie sehr das in den Köpfen drin ist. Menschen springen sofort auf alles an, was man irgendwie messen kann und was Leute unterschiedlich macht, obwohl doch klar ist, dass das keinen produktiven Wert hat für die Welt und auch nicht für die Experimentatoren.
Hipp: Bei Leistung schauen wir oft nur auf das Produkt und nicht auf die Anstrengung, die dahinter steht, und blenden damit einen wichtigen Leistungsaspekt aus. Aus Schulnoten zum Beispiel können wir nicht ablesen, ob jemand faul ist, es aber dank eines großen Talentes zu einem „sehr gut“ gebracht hat, oder ob sich jemand, der weniger gut ausgestattet ist mit allen möglichen Ressourcen, mächtig angestrengt hat. Um das zu verdeutlichen, zeige ich in meinen Einführungsveranstaltungen zu sozialer Ungleichheit eine Karikatur. Da ist ein großer Baum und davor stehen unterschiedliche Tiere: ein Elefant, ein Affe, eine Schnecke, und derjenige, der zuerst oben ist, der gewinnt. Aber natürlich ist es für den Elefanten eine viel größere Leistung, auf den Baum zu komme als für das kleine, flinke Äffchen.
Finger: Und darunter steht: „Das ist ein fairer Wettbewerb. Jeder macht dieselbe Aufgabe.“
Kübler: Aber es ist eben doch eine Karikatur unserer Gesellschaft zu behaupten, dass wir so ticken. Wir haben alle möglichen Systeme, die Bedürfnisse berücksichtigen im Bereich Gesundheit, Bildung und so fort. Wir schauen nicht nur: Wer kann was, und danach wird alles verteilt. Es gibt die deskriptive Frage: Leben wir in einer Meritokratie? Und dann gibt es die normative Frage: Finden wir das richtig? Ich würde beides mit Nein beantworten.
Es scheint ein tiefes menschliches Bedürfnis zu sein, es solle gerecht zugehen. Frage an die Ökonomin: Steckt das im Menschen? Garantiert das gesellschaftlichen Frieden, das Versprechen: Wenn ich mich anstrenge, dann bekomme ich auch was?
Kübler: Es gibt Experimente, wo Glück einen ganz großen Anteil hat an der Bezahlung, die die Leute bekommen, und eigene Anstrengung einen ganz kleinen. Aber solange es diesen kleinen Anteil gibt, akzeptieren die Leute Ungleichheit. Die verteilen dann nicht mehr um. Und wenn es nur Glück ist, dann verteilen sie um. Solche Experimente zeigen, dass da irgendwas ganz tief verwurzelt
ist. Normativ würde ich sagen: Das ist falsch. Diese Experimente sind auch dazu da, zu zeigen: Das ist falsch. Andere Experimente zeigen, dass die Leute Überzeugungen entwickeln, die zu ihrem eigenen Nutzen sind: Wenn jemand Glück hatte und viel Geld verdient, hat er das Gefühl, das liegt nicht am Glück, sondern an seiner Anstrengung. Deswegen ist es auch okay, wenn nicht umverteilt wird. Also lügt man sich sozusagen in die Tasche. Wenn man auf andere Jahrhunderte blickt, sieht das ganz anders aus. Es galt nicht immer: Wer härter arbeitet, soll auch mehr verdienen. Arbeit war nicht immer etwas, das einen gekleidet hat – eher im Gegenteil.
Wobei unterschiedliche Bereiche unterschiedlich gewertet werden.
Finger: Allerdings. Nach den Debatten der letzten Jahre, über Corona, Pflege, Kindererziehung, würde wahrscheinlich niemand mehr sagen, dass die typischen Frauenberufe weniger wert sind und sich die Menschen da weniger anstrengen als in anderen Berufen. Aber in der Entlohnung spiegelt sich das trotzdem nicht wider.
Hipp: Warum werden bestimmte Berufe, ganz konkret frauendominierte Berufe mit hohem Sorgeanteil, so viel schlechter entlohnt als andere? Das hat nichts mit Nachfrage zu tun. Es hat auch nichts mit körperlichen Belastungen oder mit Verantwortung zu tun. Eine Erzieherin trägt nicht weniger Verantwortung als ein Automechaniker und auch nicht als eine Grundschullehrerin. Dennoch verdient sie deutlich weniger. Es gibt bei der Bezahlung also große Abstufungen, und wir bewerten vergleichbare Leistungen völlig unterschiedlich.
Kübler: Die Idee von Preisen ist ja, dass damit Knappheiten ausgedrückt werden können. Eine Reaktion auf den Personalmangel in der Pflege ist zu sagen: Man muss mehr bezahlen. So kommt es vielleicht, dass meritokratische Ideen einen normativen Gehalt bekommen: Der Marktmechanismus funktioniert über diese Knappheitssignale, und Geld hat eine Lenkungsfunktion. Aber nun ist der Arbeitsmarkt viel komplizierter als ein Markt für Äpfel. Institutionelle Regelungen und gesellschaftliche Vorentscheidungen, wie viel wofür bezahlt wird, spielen eine ganz große Rolle. Und es hat viel mit Macht zu tun, was wie hoch bewertet wird.
Hipp: Aus einer soziologischen Perspektive ist die Argumentation gar nicht so anders. Strukturfunktionalisten würden sagen: Manche Tätigkeiten werden mehr gebraucht in der Gesellschaft – Managerinnen und Professoren sind wichtiger als Erzieher und Pflegerinnen, damit das ganze System läuft. Darum ist es gerechtfertigt, dass die mehr verdienen. Die konflikttheoretische Position hingegen argumentiert, dass Lohnunterschiede daher kommen, dass Macht ungleich verteilt ist. Manche Gruppen sind einflussreich genug, ihre Privilegien zu schützen, andere Gruppen hingegen weniger mächtig und nicht organisiert. Deshalb sind da diese Leistungsprinzipien nicht so verwirklicht, wie es dem Gefühl vieler Menschen entsprechen würde.
Finger: Das ist ja der Punkt: Es gibt dieses Gefühl, dass eine hohe Position mit Leistung zusammenhängt. Professorinnen oder Manager haben sich angestrengt, haben viel investiert, Zeit, ökonomische Ressourcen, haben besondere Talente, und deswegen sind sie gerechtfertigterweise da, wo sie sind. Das nimmt jeder erst mal als logisches Prinzip hin, weil suggeriert wird, dass alle die gleichen Chancen haben. Vom Tellerwäscher zum Millionär. Alle wissen, dass das nicht so hundertprozentig stimmt. Aber es ist Teil des meritokratischen Leitbildes, der Ideologie. Wenn ich an mein Thema Studienzulassung denke: Dort zählen die harten Leistungskriterien und die werden auch komplett unabhängig von so etwas wie sozialer Herkunft gemessen. Die Hochschulen wissen nicht, unter welchen Bedingungen Noten oder Testergebnisse erzielt werden konnten. Das wurde mit der jüngsten Reform sogar verschärft: Die Bedeutung von Abiturnote und Tests wurde gestärkt, dafür wurde die nicht leistungsbasierte Wartezeitquote abgeschafft.
Was wäre die Alternative? Könnte man mit Zufall arbeiten?
Finger: In den Niederlanden wurde das bei der Studienzulassung versucht: Es wurde gelost. Aber weil allein glücksbasierte Zuweisung als illegitim wahrgenommen wird, wurde dort nach Noten gewichtet: Diejenigen mit den besseren Noten haben mehr Lose bekommen. Selbst das hat zu großen Debatten geführt, sodass diese Glückskomponente wieder komplett weggenommen wurde.
Hipp: Dorothea, gibt es denn aus der ökonomischen Forschung Belege dafür, dass das Leistungsprinzip zu effizienteren Ergebnissen
führt? Sind Abbrecherquoten geringer, wenn Plätze nur nach Note vergeben werden?
Kübler: Ich kann dir ganz leicht ein Experiment entwerfen, wo das so wäre. Aber ich kann dir auch ein Experiment entwerfen, wo das
nicht so ist. Ich würde sagen, dass das vom Kontext abhängt. Noch ein ganz anderer Aspekt: Wir reden jetzt sehr viel über Arbeit und Löhne und Geld. Es gibt ja auch andere gesellschaftliche Bereiche. Wie ist das mit unterschiedlichen Gütern? Gesundheitsversorgung zum Beispiel oder Sicherheit sind nicht einkommensabhängig, jedenfalls nicht so sehr. Das ist doch der Anspruch, dass Leistung in diesen Bereichen keine Rolle spielen soll.
Hipp: Dass diese Daseinsvorsorge ein Grundrecht des Menschen ist und es nicht um Leistung gehen soll, da besteht in Deutschland
wahrscheinlich ein weitgehender Konsens. Aber es gibt bereits Debatten, ob Leute, die Risikosport machen, die sich ungesund verhalten, irgendwie höhere Beiträge zahlen sollen. Schon heute belohnen es Krankenkassen, wenn man zur Vorsorge geht.
Finger: Interessant ist auch, dass dieses meritokratische Ideal nicht nur von den Privilegierten aufrechterhalten wird. Das ist nicht etwas, was wenige nutzen, um ihren Status zu konservieren, sondern das wird von weniger Privilegierten mitgetragen. Vielleicht geht es darum, Dissonanz zu reduzieren, irgendwie das Gefühl zu haben, man hat es doch in der eigenen Hand.
Hipp: Ja! Ich kann, wenn ich will und mich anstrenge. Diesen Traum aufzugeben ist total demotivierend.
In meinem Nahbereich, in der eigenen Familie, ticke ich doch nicht so. Aber auf der gesellschaftlichen Ebene zählen andere Muster. Woher kommt das?
Hipp: Ist das tatsächlich so? Ich denke an Dating: Männer mit viel Geld haben deutlich bessere Datingchancen als Männer mit weniger
Geld. Ich will kein völlig defätistisches Bild von der Welt zeichnen, aber ich bin mir gar nicht so sicher, ob man den Leistungsgedanken in den engen Sozialbeziehungen wirklich komplett rausrechnet.
Es ist zu beobachten, dass in Gesellschaften, in denen Einkommen und Vermögen ungleicher verteilt sind, Menschen sich weniger Sorgen um Ungleichheit machen, zugleich aber auch stärker denken, dass Ungleichheit auf Leistung beruht. Ist das nicht ein Paradox?
Hipp: Das hat vielleicht damit zu tun, wie segregiert Gesellschaften sind: Wo bewege ich mich? Wie stark nehme ich Ungleichheit wahr? Bin ich nur bei meinesgleichen? All das kreiert meine eigene kleine Realität.
Finger: Tatsächlich kann gezeigt werden: Mit weniger Kontakt zu weniger privilegierten Schichten sinkt die Wahrnehmung für Barrieren, die tatsächlich überwunden werden müssen. Man kann sich in seiner Bubble sehr wohlfühlen, weil man eben nicht mit den Barrieren konfrontiert wird. Das ist in Gesellschaften, die weniger segregiert sind, noch nicht so stark der Fall. Da hat man irgendwie mehr Verständnis dafür, was es zusätzlich noch braucht, um gesellschaftlich nach oben kommen zu können.
Wo stehen wir denn in zehn Jahren? Wird Leistung, wird Meritokratie wichtiger, wird sie differenzierter?
Kübler: Im Moment ist das in der Ökonomie ein sehr aktives Forschungsgebiet: empirischherauszufinden, welche Verteilungspräferenzen Leute haben. Da spielt natürlich Meritokratie eine große Rolle. Wie sich die Wissenschaft weiterentwickelt und wie wir uns weiterentwickeln, finde ich sehr schwer zu sagen. Festhalten sollte man, dass der Begriff „Meritokratie“ sehr unklar ist, weil er nicht sagt, welche Verdienste oder Fähigkeiten zählen sollen. Meistens wird er doch auch eher abwertend verwendet.
Hipp: Meritokratie ist fast schon ein Kampfbegriff, der sehr unterschiedlich verwendet werden kann. Geht es um Anstrengung oder das Ergebnis? Für ein Forschungsprojekt haben wir bei uns im Team viel darüber diskutiert, ob ein Unternehmen, das sich für Chancengleichheit einsetzt, eigentlich auch als meritokratisch beschrieben werden kann oder nicht. Mit der Vorstellung vom Leistungsprinzip verbindet jeder, was er oder sie gerne möchte. Und zum Ausblick: Auch in der Soziologie gibt es ein großes wissenschaftliches Interesse an Verteilungsprinzipien – wie beurteilen Menschen unterschiedliche Verteilungsprinzipien? Wie entwickelt sich die Gesellschaft?
Kübler: Im Wahlkampf in Sachsen und Thüringen hat das überhaupt keine Rolle gespielt. Es gab keine Debatten über Umverteilung, oder? Wobei die Migrationsdebatte vielleicht die Verteilungsdebatte ist, die wir indirekt haben: Warum kriegen die Geld, und wir kriegen nichts? Vielleicht ist das der Stellvertreter im Moment für diese Art von Fragen.
Hipp: Was in der Soziologie und ich glaube aber auch in der Ökonomie und der Psychologie ganz wichtig ist, ist der Vergleich. Wenn wir uns an die Bürgergelddebatte Anfang des Jahres erinnern: Der Vergleich ist, was Leute schmerzt, auch wenn es zum Teil absurde Beispiele sind – große Bedarfsgemeinschaften in Städten mit einer hohen Miete. Auch dort spielt das Leistungsprinzip eine Rolle: Wer arbeitet, soll auch mehr haben als derjenige, der nicht arbeitet. Der Wunsch nach Abstand zwischen diesen Gruppen ist zentral für
unser Gerechtigkeitsempfinden.
30.9.2024
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